Rüstungsaltlasten

An Standorten von ehemaligen Rüstungsbetrieben und militärischen Einrichtungen gefährden heute Rüstungsaltlasten Menschen und Umwelt. Von Andreas Wagner

Rüstungsaltlasten sind versickerte oder abgelagerte Schadstoffe, die während der Produktion und Verarbeitung von Pulver, Spreng- und Kampfstoffen, oder bei der Herstellung, dem Betrieb oder der Vernichtung von militärischen Geräten, Waffen und Munition angefallen sind. Viele dieser Schadstoffe, wie zum Beispiel der Sprengstoff TNT, chemische Kampfstoffe oder Schmier- und Treibstoffe, gelten als krebserregend und erbgutschädigend.

Laut einer „Bestandsaufnahme von Rüstungsaltlastenverdachtsstandorten in der Bundesrepublik Deutschland“ von Oktober 1992, die vom Bundesumweltamt in Auftrag gegeben wurde, ist an 4336 Standorten in Deutschland ein Verdacht auf Rüstungsaltlasten gegeben. Davon sind 453 alleine in Bayern. Bei diesen Standorten handelt es sich um Fabriken der Rüstungsindustrie, um Munitionsanstalten der ehemaligen deutschen Wehrmacht, um Delaborierungsanlagen zur Vernichtung von Munition, um die verschiedensten militärischen Einrichtungen wie beispielsweise Flug-, Schieß- und Truppenübungsplätze und um Orte, an denen Munition einfach vergraben oder versenkt wurde. Einen besonderen Stellenwert nehmen hierbei die während des Dritten Reiches und Zweiten Weltkrieges erbauten und betriebenen Rüstungsanlagen ein. Von ihnen – insbesondere von den großen Pulver, Spreng- und Kampfstoffe herstellenden und verarbeitenden Fabriken – geht heute dass größte Gefährdungspotential aus.

Im Rahmen des nationalsozialistischen Aufrüstungsprogramms wurden in kürzester Zeit riesige chemische Fabriken zur Herstellung von Pulver und Sprengstoffen errichtet, dezentral und in eine größtenteils unberührte Landschaft. Produziert wurde unter Kriegsbedingungen. Die ständige Produktionssteigerung hatte grundsätzlich Vorrang vor Maßnahmen zum Schutz der in Ihnen beschäftigten Menschen und der Umwelt. Belastete Abwässer wurden kurzerhand in Flüsse geleitet oder in den Untergrund verpresst und belastete Abfälle unsachgemäß entsorgt. Zum Teil große Mengen Schadstoffe wie hochgiftige Sprengstoffe gelangten während der Produktion als Staub in die Umwelt. Nach dem Krieg entstanden auf dem Gelände solcher Rüstungsanlagen Wohnsiedlungen oder gar Städte wie in Waldkraiburg, Kaufbeuren-Neugablonz und Geretsried.

Geretsried kommt dabei eine besondere Rolle zu: Geretsried war nicht nur ein wichtiger und einer der größten Rüstungsstandorte im damaligen Deutschen Reich, sondern Geretsried nimmt heute bei der Bewältigung der Problematik der Rüstungsaltlasten in Bayern eine Pilotfunktion ein: Hier sind die Vorerkundungen und Untersuchungen im Vergleich zu anderen Verdachtsstandorten in Bayern am meisten fortgeschritten.

Während des 2. Weltkrieges stellten hier in zwei Fabriken mehr als 4000 Menschen (Dienstverpflichtete, ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene) Sprengstoffe und Munition her. Allein im Werk Geretsried der Deutschen Sprengchemie GmbH, eine dieser beiden Fabriken, wurden insgesamt zwischen 40 000 und 60 000 Tonnen Spreng- und Zusatzstoffe verarbeitet.

Seit Frühjahr 1991 wird das Gelände der Stadt Geretsried offiziell als „Verdachtsfläche Rüstungsaltlasten“ eingestuft. Seither wurde das Grundwasser in mehreren Untersuchungsreihen nach sprengstoffspezifischen Parametern untersucht und in einzelnen Fällen auch Bodenproben ausgewertet. Dabei konnten im Grundwasser Sprengstoffreste in Spuren und im Boden zum Teil in erheblichen Mengen festgestellt werden. Parallel dazu wurde im Auftrag der Stadt Geretsried ein historisch-genetisches Gutachten (Rekonstruktion der Rüstungsbetriebe) und ein „Rechts“-Gutachten erarbeitet, sowie eine Luftbildauswertung vorgenommen. Aufgrund dessen wurde die Verdachtsfläche auf 2/3 des Stadtgebietes reduziert. Im Juli diesen Jahres wurde jetzt von staatlicher Seite mit der gezielten Untersuchung des Bodens im Bereich der ehemaligen Sprengstofffertigung und -verarbeitung begonnen.

Selbstverständlich war es nicht, dass sich die Bayerische Staatsregierung dem Problem der Rüstungsaltlasten angenommen hat. Lange Zeit wurde die Problematik verharmlost und totgeschwiegen. Das bayerische Innenministerium sprach von „Horrormeldungen ohne jeder sachlichen Grundlage“. Noch 1988 behauptete es gar in einer Presseerklärung, neben Geretsried währen auch die Städte Waldkraiburg und Kaufbeuren-Neugablonz „keine Standorte von Produktionsbetrieben für Sprengstoff und Kampfmittel“ gewesen.

Für solche nachweisbar falsche Behauptungen gibt es folgende Gründe: Zum einen will man jeden Verdacht schon im vornherein ausräumen, weil Untersuchungen – und wenn etwas gefunden werden sollte – sehr teure Sicherungs- und Sanierungsmaßnahmen die Folge sein könnten. Zum anderen wird auch hier eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gescheut, zumal es um Rüstung im Dritten Reich geht und konkret: um Verbrechen gegen die Umwelt. Ein nicht ganz unwesentlicher Grund ist aber sicherlich auch der, dass befürchtet wird, die Bevölkerung könnte aufgrund dessen gegenüber dem Militär und der Rüstungsindustrie eine kritischere Haltung einnehmen.

Das heute das Problem der Rüstungsaltlasten von der bayerischen Staatsregierung nicht mehr so einfach zu umgehen ist, ist den Grünen im bayerischen Landtag und den verschiedenen Initiativen zu verdanken, die sich immer wieder vor Ort einmischen. Dabei hat sich gezeigt, dass eine Zusammenarbeit zwischen Umweltschutzgruppen und Geschichtswerkstätten sinnvoll ist und sich sehr gut ergänzt, um Verdachtsflächen zu lokalisieren und Behörden und PolitikerInnen in die Pflicht zu nehmen damit diese handeln.

Einmal im Jahr findet hierzu ein bayernweites Treffen der Initiativen gegen Rüstungsaltlasten statt, auf dem Informationen und Erfahrungen ausgetauscht werden. Das letzte war am 24. April dieses Jahr in Ingolstadt. Die Teilnehmer begrüßten darin, dass neben Geretsried mittlerweile auch an anderen bayerischen ehemaligen Rüstungsstandorten wie Waldkraiburg mit Vorerkundungen und Untersuchungen begonnen wurde. Dennoch waren sich aber alle einig: Der Umgang mit der Rüstungsaltlasten-Problematik muss auch weiterhin kritisch verfolgt werden. Dass noch immer nicht an allen bayerischen Rüstungsaltlastenverdachtsstandorten Gefährdungsabschätzungen und systematische Untersuchungen eingeleitet wurden, zeigt die Notwendigkeit von Initiativen, die sich dem Thema annehmen und so auf ein in-Angriff-nehmen drängen. Die Geschichtswerkstätten sind hierzu aufgefordert bei der Lokalisierung und Erforschung der Geschichte von möglichen Rüstungsaltlasten-Standorten mitzuarbeiten.

Der Artikel wurde 1994 in “Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten”, Heft 3 veröffentlicht.

  1. Juli 1994
 
  Kategorie: Artikel